Von der Herzoperation Silvester 2005 zum Marathon Oktober 2007

Samstag, 11. Dezember 2010

Was kostet ein Leben?

Angeregt von Stroheim möchte ich auch meine Weihnachtsgeschichte erzählen. Ich habe nämlich vor Jahren einer verzweifelten Frau das Leben gerettet.

Das kam so: ich war Student und verdiente meinen Lebensunterhalt als Taxifahrer. So sehr ich die Freiheit, die damit verbunden war, auch schätzte, ich identifizierte mich nicht mit dem Beruf, und manchmal ging er mir schon ganz schön auf die Nerven. Es war kurz vor Weihnachten, und ich war noch nie ein Freund davon gewesen. Ich haßte diese ganze aufgesetzte Fröhlichkeit, die unverhohlene Geschäftsabsicht hinter der frommen Stimmung, den immer schlimmer werdenden Konsumterror. An diesem Abend war es besonders schlimm: es hatte geschneit, die Straßen waren matschig und das Wetter unwirtlich, so daß kaum Menschen unterwegs waren, und wenn, dann nur für kurze, wenig einträgliche Fahrten. Gegen Mitternacht war meine Laune ganz schlecht, ich hatte wenig eingenommen, und ich hatte mir vorgenommen, immer erst nach Hause zu fahren, wenn ich 100 Mark für mich verdient hatte - das drohte an diesem Abend lange zu werden.

Es war schon fast 4 Uhr morgens, als ich per Funk den Auftrag bekam, zur Höchster Mainanlegestelle zu fahren. Dort war eine Schiffskneipe, die wohl langsam schließen wollte. Die letzten Gäste wollten nach Hause, und das bedeutete für mich, daß es wieder eine kurze Fahrt werden würde. Ich stieg aus, ging kurz hinein und sagte dem Wirt Bescheid.

Nach einer Weile kam eine ältere Dame heraus, ich schätzte so um die 60. Sie hatte einiges getrunken, so daß sie beim Gehen schwankte und ziemlich lallte. Das machte mir normalerweise nichts aus, als Taxifahrer im Nachtschichtbetrieb hat man ja meistens solche Gäste. Die Dame war aber aufgrund ihres Zustands irgendwie depressiv geworden. Sie dachte laut über ihr mißlungenes Leben nach, fand alles ganz furchtbar und jammerte mir in einem fort die Ohren voll. Die Absicht dahinter war offensichtlich, sie wollte vom Taxifahrer ein paar freundliche Worte bekommen; sie stellte alles allzu negativ hin, damit ich widersprach und ihr etwas Trost zusprach.

Es war schließlich Weihnachten, also spielte ich das Spielchen mit, ließ ein paar halbherzige Sätze fallen in der Art, das Leben sei schön, der Winter sei ja bald vorbei (im Dezember!), danach komme auch der Frühling, und überhaupt. Ich muß meine Rolle ziemlich schlecht gespielt haben, denn sie legte nach, anstatt sich zu beruhigen: ich sei ein schrecklicher Lügner, sie merke, daß sie mir auf den Geist ginge, und sie würde sich jetzt umbringen, und zwar sobald sie nach Hause käme (was tatsächlich um die Ecke war - meine Befürchtung, eine Kurzstrecke zu bekommen, hatte sich bewahrheitet).

Auch hier gelang es mir nicht, sie aus ihrer Stimmung zu reißen, im Gegenteil war sie immer entschlossener, sich umzubringen, trotz (oder wegen) meiner guten Worte. Mir blieb aber keine Zeit mehr, sie umzustimmen, denn auf einmal hatten wir ihre Wohnung erreicht. Auf dem Taxameter standen 7,60 Mark. Sie gab mir, immer noch jammernd, einen Zwanzigmarkschein, und da stellte ich zu allem Überfluß fest, daß ich nicht genug Kleingeld hatte, um ihr rauszugeben.

"Wissen Sie was", sagte ich, jetzt richtig entnervt, "ich behalte die 20 Mark. Sie brauchen sie ja nicht mehr, wenn Sie sich gleich umbringen."

Ihr Gesicht erfuhr eine Wendung, wie ich sie selten gesehen habe. Plötzlich war der Schwips weg, und aus dem jammernden, todeswilligen Waschlappen war eine zornige Kämpferin geworden.

"Was... erlauben Sie sich?", kam es schneidend aus ihr heraus. "Eine alte Frau in einer schwierigen Lage auszunehmen! Ich werde Sie sofort bei der Taxizentrale melden!" Es folgte eine Tirade, die die Fahrzeit locker um ein Vielfaches überstieg. Ich wurde als herzlos, materialistisch, unmoralisch und was nicht noch mehr beschimpft. Das Ende vom Lied war: sie nahm ihre 20 Mark, stieg zornig aus dem Auto und verschwand in ihrer Wohnung. Am nächsten Morgen hatte sie mich auch wirklich bei der Taxizentrale angeschwärzt.

Mir wurde klar: ich hatte ihr das Leben gerettet. Mit der Zentrale bekam ich keine Schwierigkeiten; als ich die Situation darlegte, brachte man mir nicht nur Verständnis entgegen, sondern es wurde auch laut gelacht. Meine Fahrt bekam ich nicht bezahlt, aber ich fand, 7,60 Mark waren für ein Menschenleben eine gute Investition.